Der Geisteskontinent Österreich
Das Brüsseler Arbeitszimmer Otto von Habsburgs zierte einst ein goldenes Fähnlein mit dem kaiserlichen Doppeladler und dem Schriftzug „Mitteleuropa“.
Einen ersten, nach wie vor präsenten und vor allem im Hinblick auf seine politischen Implikationen wirkungsmächtigen Topos hat der Triestiner Germanist Claudio Magris bereits 1963 formuliert: Der „Habsburgische Mythos“ umschreibt seither die positive Sinnstiftung der Habsburgermonarchie als rückwärtsgewandte Utopie einer „glücklichen und harmonischen Zeit“, eines „geordneten und märchenhaften Mitteleuropa“ Zur selben Zeit war das kulturelle „Erbe“ der Habsburgermonarchie in Österreich selbst weitgehend vergessen – vom „Vergessen des Geisteskontinents Österreich“ sprach Friedrich Heer 1974 in der Einleitung zu William M. Johnstons Österreichischer Kultur- und Geistesgeschichte – oder aber politisch umstritten. Erst in den 1980er Jahren wurden jene Vorstellungen, die Zentraleuropa nun unter einem neuen, positiven Vorzeichen thematisierten, in Österreich selbst breiter rezipiert. Die Akzeptanz dieser „invention of tradition“ verdankt sich nicht zuletzt der „Mitteleuropa“-Euphorie von Schriftstellern und Intellektuellen jenseits des Eisernen Vorhangs: Mit der „Entdeckung“ eines die nationalen und vor allem die Grenzen des Kalten Krieges überschreitenden zentraleuropäischen Raums verband sich eine neue imaginäre kulturelle Grenzziehung, nämlich jene zum „Osten“ – womit keine exakt lokalisierbare geographische Beschreibung, sondern eine mentale Codierung des „Anderen“ der europäischen Zivilisation bezeichnet wurde. So beschreibt Heidemarie Uhl das Thema in ihrem Aufsatz „Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen“
Mitteleuropa ist kein mystisches Avalon sondern das reale Gebiet zwischen Deutschland und Russland, bevölkert von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Traditionen. Die EU-Erweiterungen der letzten Jahrzehnte wurden aber in Mitteleuropa gedanklich nicht nachvollzogen, hängen die individuellen Vorstellungen doch zu sehr an westeuropäischen Mustern. Eine echte Rückbesinnung auf die Mitte Europas tut not, denn nur dort leben Menschen, die sich noch daran erinnern können als Europa geteilt war. Wie überhaupt eine Politik des Erinnerns von Vorteil wäre, denn nur so kann Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden werden: Die übernationale österreichisch-ungarische Monarchie dient als gutes Beispiel für die Europäische Union. Drei Ministerien waren reichsunmittelbar: Außenpolitik, Finanzen und Verteidigung.
Der Polemiker Karl Kraus hat „sein“ Wien einst als „Versuchsstation des Weltunterganges“ bezeichnet. Bekanntlich finden angekündigte Weltuntergänge nicht statt andererseits hindert uns niemand, etwas aus Europa zu machen. Als Bremsklotz zur weiteren Integration zeigt sich immer wieder die mentale West-Ostteilung, von der schon in der Einleitung die Rede war, das traurige Produkt einer (noch) nicht gelungenen historischen Aufarbeitung.
Um seine oft zitierte „Brückenfunktion“ wirklich auszuüben, muss Österreich zu aller erst ein mitteleuropäischer Staat sein (werden?) mit einer ausgeprägten mitteleuropäischen Identität, um sich mit Empathie um seine Nachbarn kümmern zu können!
Emil Brix und Erhard Busek hielten uns in einer atemberaubenden geistigen „tour de force“ im Bann. Die Position der beiden ist eindeutig: Nur wenn die mitteleuropäischen Staaten, von Polen bis (Nord) Mazedonien, von Tschechien bis Rumänien und Moldawien, wieder als Mitte Europas wahrgenommen werden, kann das europäische Integrationsprojekt gelingen. Einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ erteilen sie eine klare Absage- denn das würde zu einem Auseinanderbrechen der EU führen.
Unserem Vizepräsidenten Dr. Alexander Christiani gelang es, nach einer launigen und humorvollen Einleitung, kunstvoll und auf sehr hohem intellektuellen Niveau, die vielen Fragen unserer kenntnisreichen Mitglieder zu moderieren.
Es war durchaus berechtigt, dass nach all dieser reichhaltigen geistigen Nahrung, die uns zuteil geworden ist auch an das körperliche Wohl der Mitglieder mit köstlichen Brötchen und erlesenen Weinen gedacht wurde. Dafür gebührt dem Café Landtmann herzlichen Dank.
Wolfgang Geißler
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